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Titel
Werk oder Ware?. Wirtschaftlicher Strukturwandel in der Tonträgerindustrie der Bundesrepublik zwischen 1951 und 1983


Autor(en)
Müller, Christian A.
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tom Koltermann, Abteilung Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Untersuchung populärer Phänomene anhand des Konzepts einer manipulativen Kulturindustrie (etwa nach Theodor Adorno und Max Horkheimer) gerät in den letzten Jahrzehnten immer mehr aus der Mode. Selbst wenn längst noch kein Konsens über das Potential von Forschung zu „kommerzieller“ Unterhaltung besteht, werden populärkulturelle Phänomene mittlerweile häufiger in allgemeine historische Darstellungen eingeflochten. Dazu sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche überzeugende Studien zur Massenkultur erschienen, die vor allem die eigensinnigen Aneignungsprozesse bei Pop-Konsument:innen seziert haben.1 Die Produktion selbst, also die „industrielle“ Seite der Populärkultur, hat dagegen weniger Beachtung gefunden. Christian A. Müller stößt mit diesem Buch, das auf seiner Dissertation basiert, genau in diese Lücke.

Müllers Studie zur deutschen Tonträgerindustrie ist dabei primär unternehmensgeschichtlich angelegt und zielt weniger auf die Beantwortung großer Fragen nach dem Wechselspiel zwischen den Sphären von Wirtschaft und Kultur. Daher erscheint die im Buchtitel formulierte Frage: „Werk oder Ware?“ etwas irreführend. Stattdessen interessiert sich Müller vor allem dafür, wie die großen Tonträgerfirmen der Bundesrepublik sich in einer oligopolistisch organisierten Branche mit hohem Innovationsdruck behaupten konnten. Zurecht weist er darauf hin, dass die meisten Musikstücke nur eine kurze Halbwertszeit hatten und Verkaufserfolge schlecht im Vorfeld planbar waren. Ausgehend von Firmen wie dem einstigen Tochterunternehmen von AEG, der TELDEC, oder Bertelsmanns Ariola will er deren Umgang mit diesen Unwägbarkeiten und den damit verbundenen Wandel in der Produktion und im Vertrieb zwischen 1951 und 1983 nachzeichnen. Müller lässt seine Untersuchung also mit der Einführung der Compact Disc (CD) enden. In der Studie selbst geht er dann allerdings durchaus auch noch auf die wirtschaftlichen Effekte der CD für die Tonträgerproduzenten ein. Die Periodisierung zeigt aber bereits, dass Müller sich nicht an Musiktrends, Genres oder Popstars orientiert, sondern sich vor allem für die technische Einführung und Verkauf der klassischen Vinyl-Langspielplatte (LP) und Single interessiert.

Müllers Schilderungen der historischen Beweggründe, sich als Unternehmen überhaupt auf dem Schallplattenmarkt zu positionieren, sind aus heutiger Perspektive überraschend. In den allermeisten Fällen handelte es sich um Hersteller von Elektro-Technik, die über den Verkauf von Schallplatten Werbung für ihre Hauptprodukte machen wollten. Bei Siemens und der dazugehörigen Deutschen Grammophon stand dagegen anfangs die Kulturförderung im Mittelpunkt. Die Unternehmen profitierten zudem davon, dass sie bereits über Vertriebsnetze verfügten und ihre Produkte so problemlos im Einzelhandel unterbringen konnten. Für den Autor liegt die große Gemeinsamkeit innerhalb der Tonträgerindustrie der 1950er-Jahre darin, dass die Schallplattenabteilungen überall eine untergeordnete Rolle in der Struktur der Gesamtunternehmen spielten. Von diesen Unternehmenszweigen wurde so nicht unbedingt wirtschaftliche Rentabilität erwartet. Kennzeichnendes Merkmal der Schallplattenfirmen waren die schwierige Programmplanung, da für die Produktion eines Tonträgers zahlreiche kleinteilige Arbeitsprozesse aufeinander abgestimmt werden mussten. Hinzu kam die Abhängigkeit von der sogenannten „Künstlerpersönlichkeit“ (S. 38) – eine ungewohnte Konstellation in der klassischen Industrieproduktion. Diese Periode von 1951, dem Jahr, in dem die Langspielplatte eingeführt wurde, bis in die späten 1950er-Jahre identifiziert Müller trotz der schwierigen Ausgangslage als Wachstumsphase der Tonträgerindustrie.

Darauf folgte eine Phase der Umsatzstagnation bis in die Mitte der 1960er-Jahre. Die zunehmende mediale Präsenz von Popmusik und die Einführung von mobilen Abspielgeräten wirkte sich nur langsam auf die Verkaufszahlen aus. Müller stellt heraus, dass Anfang der 1960er-Jahre nur ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung über einen Plattenspieler verfügte und nur zehn Prozent überhaupt regelmäßig Tonträger kauften. Die Zahl der Intensivkäufer:innen blieb über den ganzen Untersuchungszeitraum relativ konstant, während die Zahl der Gelegenheitskäufer:innen anstieg. Selbst in den 1980er-Jahren kaufte die Hälfte der Bevölkerung keine Musik. Trotzdem drangen Anfang der 1960er-Jahre immer mehr internationale Plattenfirmen auf den deutschen Markt und gaben sich nicht mehr mit vermeintlich weniger lukrativen Vertriebsdeals zufrieden. Dazu setzte sich langsam der Alltagskonsum von Schallplatten durch und Niedrigpreistonträger wurden immer beliebter. Die Tonträgerproduzenten fügten sich dieser Präferenz – ein Hauptgrund für die Umsatzstagnation in dieser Zeit.

Ein folgenschwerer Trend war die Verschiebung des Käufer:innengeschmacks weg vom klassischen Schlager hin zu internationalen Interpret:innen ab Mitte der 1960er-Jahre. Dabei handelte es sich um eine Entwicklung, die von den deutschen Plattenfirmen nicht aktiv vorangetrieben worden war, wie Müller eindrücklich schildert, sondern auf die sie vor allem reagierten. Bis dahin galt es innerhalb der Unternehmen als ungeschriebene Regel, dass sich wirtschaftlicher Erfolg nur mit Musik in der Landessprache erzeugen lasse. Da es finanziell weniger lukrativ war ausländische Stücke zu lizensieren als eigene Repertoires zu produzieren, standen die Plattenfirmen vor einem Dilemma. Weil die Produktionskosten trotz des gestiegenen Absatzes wuchsen, suchten viele der Tonträgerfirmen in dieser Phase ihr Heil im Wachstum, da die hohen Kosten so besser zu bewältigen waren. Eine neue Entwicklung in der Bundesrepublik stellten dabei unabhängige Plattenlabels wie beispielsweise Hansa dar, die sich selbst um die Anwerbung von Interpret:innen kümmerten und die entstandenen Aufnahmen dann an die klassischen Tonträgerunternehmen verkauften. Die großen Firmen lagerten also immer mehr Tätigkeiten aus, begaben sich damit allerdings in neue Abhängigkeiten.

Eine zentrale Leistung ist die Entmystifizierung der Kontrollmacht der Plattenindustrie über die Musikfans. So zeigt der Autor beispielsweise, dass allein die TELDEC genug Produktionskapazitäten besaß, um den gesamten Schallplattenbedarf der Bundesrepublik zu decken. Das war notwendig, um erfolgreiche Tonträger schnell nachproduzieren zu können. 80 Prozent des Umsatzes speiste sich aus nur 20 Prozent der Veröffentlichungen. Erfolg war nur sehr schwer im Voraus planbar – die kommerziell erfolgreichen Produkte waren meist schnelllebige Charttitel. Ab den 1970er-Jahren intensivierte sich zwar die Marktforschung, doch der Publikumsgeschmack blieb gewissermaßen ein Enigma für die Labels. Die Reform der Charts und die verstärkte Datenerfassung in diesen Jahren schuf allerdings etwas Abhilfe, da die Unternehmen ihre tatsächlichen Verkäufe nun besser einschätzen konnten und auch die Hörer:innen eine neue Orientierungshilfe erhielten (vgl. S. 169 f.).

Deutlich wird, wie sehr das Wachstum bei den Tonträgerfirmen mit ökonomischen Konjunkturphasen zusammenhing. Gleiches galt bei negativen Entwicklungen: Nach 1979 wurden jährlich immer weniger Schallplatten abgesetzt. Dazu kam, dass die Konsument:innen den allgemeinen Preisanstieg vieler Produkte im Fall von Tonträgern nicht mittrugen und dadurch die Gewinnmargen einbrachen. Diesen Abwärtstrend konnte erst die Einführung der CD umkehren, denn nun konnten alte Produktionen ein weiteres Mal verkauft werden.

Müller unterstreicht, dass bei der Produktion von Tonträgern stets ein relativ großer Anteil von klassischer Industriearbeit anfiel, und sieht seinen Untersuchungsgegenstand daher nicht als Beispiel für den übergeordneten Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Die tatsächliche Dienstleistung, die Musik, machte nur einen kleinen Teil in der Fertigungskette aus. An dieser Stelle wäre allerdings ein Ausblick in die jüngere Vergangenheit interessant gewesen, in der physische Tonträger zunehmend an Bedeutung verloren haben und sich die Strukturen innerhalb der Unternehmen möglicherweise geändert haben.

Der letzte Teil der Arbeit ist einem kurzen Abriss der Tonträgerindustrie in der DDR gewidmet. Müllers Anspruch ist, seine Ergebnisse mit den Produktionsbedingungen einer Tonträgerfirma innerhalb einer Planwirtschaft abzugleichen. Dabei stellt er nüchtern fest, dass die Verkäufe von Schallplatten dort ähnlichen Konjunkturen unterlagen wie in der Bundesrepublik. Der Monopolist VEB Deutsche Schallplatten Berlin stand vor analogen Herausforderungen wie seine westlichen Pendants, etwa schwankender Nachfrage oder der Koordination vieler kleinteiliger Produktionsschritte, konnte diese aber unter den Bedingungen der Planwirtschaft schlechter lösen.

Dies ist nur ein Teil der diskussionswürdigen Befunde der Studie. Kritisch anmerken lässt sich, dass Müller zwar zahlreiche Unternehmens- und Privatarchive durchstöbert hat, um fundierte Aussagen zum Wandel in den Firmen machen zu können, Akteurinnen und Akteure dabei aber nur vereinzelt auftauchen. Gerne hätte man mehr über die interne Unternehmenskultur und das Selbstverständnis der Mitarbeiter:innen gelesen. Hier hätten etwa Zeitzeug:inneninterviews zu einer stärkeren Konturierung beitragen können. Darüber hinaus treten in der Arbeit vereinzelt die Limitierungen des eng unternehmenszentrierten Ansatzes zu Tage: Die Beziehungen zwischen den Tonträgerfirmen und Musiker:innen, Rundfunkredakteur:innen, Musikjournalist:innen oder anderen relevanten Gruppen der Musikindustrie werden von Müller zwar immer wieder als wichtig genannt, bleiben im gesamten Buch aber blass.

Abgesehen von solchen eher kleinen Kritikpunkten hat Christian A. Müller eine konzise Darstellung der Transformation der deutschen Tonträgerindustrie vorgelegt. Insbesondere das Zusammendenken der Produktionsebene und der anschließenden Rezeption kultureller Erzeugnisse, für das Müller zahlreiche Anhaltspunkte geliefert hat, dürfte sich für die künftige Popforschung als äußerst fruchtbarer Ansatz erweisen.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Kaspar Maase, Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992.

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